Mittwoch, 10. November 2010

Underoath - Ø (Disambiguation)

Würde die Bibel erst heute geschrieben werden, fände sich an Stelle der Klagelieder sicherlich der ein oder andere Song von Underoath wieder. Grund zur Klage gibt’s heute schließlich auch noch zu Genüge und die sechs Herren aus Florida verstehen es schon seit Jahren, diese in ansprechender Musik umzusetzen.
Laut, anklagend, verzweifelt, hoffnungslos und doch hoffnungsvoll, zerbrechlich, optimistisch… fünf Alben (und eine EP) hatte das Sextett bereits veröffentlicht, als im Frühjahr die Bombe platzte: das letzte Gründungsmitglied Aaron Gillespie kündigte an, die Band nach der Europa-Tour (Bericht zu Berlin im Archiv) zu verlassen. Da er neben dem Schlagzeug auch für den klaren Gesang zuständig und dieser für den Sound der Band charakteristisch und gleichzeitig ein Erkennungsmerkmal war, stellte sich die Frage: Und was nun?
Die Band machte sofort klar, dass ein weiteres Album bereits in der Mache sei und stellte als Nachfolger Daniel Davison (ex-Drummer von Norma Jean) vor, der zwar einen wunderbaren Schnauzbart hat - singen kann er aber leider nicht. Es war also von Anfang an klar, dass man mit einer zweiten Lost in the sound of separation nicht rechnen könne.
Und mit dem ersten Song des neuen Albums Ø (Disambiguation) wird deutlich: das ist nicht nur eine weitere Underoath-Scheibe, das ist etwas Neues.


Sofort nach dem unvermeidlichen Leak des Albums waren Aussagen wie „Das ist Norma Jean für Arme!“, „Wo haben die denn die Songs geklaut?“ etc zu lesen.
Das wäre aber zu einfach. Fakt ist: Underoath klingen 2010 wieder wieder sperriger, unzugänglicher und uneingängiger als zuvor. Aber das war bei jedem Album der Fall, von daher in der Tendenz eine zu erwartende Entwicklung. Wäre Aaron noch an Bord, wären die Plagiatsvorwürfe sicherlich leiser. Da nun aber Spencer Chamberlain neben den Shouts auch den Klar-Gesang übernimmt, klingt das Ganze in der Tat etwas ungewohnt. Der mit einem Video versehene Song In Division schleppt sich düster und bedrohlich durch die Hörgänge, auch bedingt durch das tiefere Gitarren-Tuning. Das ebenfalls im Vorfeld veröffentlichte Illuminator hingegen rauscht wesentlich flotter an einem vorbei, jedoch werden auch hier langsamere Passagen eingestreut und man erkennt den Schwachpunkt des Albums: der Klargesang von Spencer ist definitiv ausbaufähig. Er ist beileibe nicht schlecht, jedoch auch nichts Besonderes.
Das war es aber auch mit Kritikpunkten, denn im folgenden bekommt man schlicht und ergreifend gute Musik zu hören. Catch Myself Catching Myself hat einen der besten Refrains, die dieses Jahr geschrieben wurden und gerade hier überzeugt Spencer auch am Gesang. Paper Lung kommt ebenfalls wieder gemäßigter daher, arbeitet viel mit ruhigen Passagen, die im Gegensatz zur kräftigeren Instrumentierung im Refrain stehen. An sich ein alter Hut, trotzdem wirkt das nie altbacken oder überholt, denn dazu sind die Songs zu vielschichtig.
Raum für Experimente bleibt natürlich auch auf Ø: das sehr elektronische Driftwood und das kurze, übersteuerte Reversal sind das Resultat der musikalischen Horizonterweiterung. Das wird nicht jeder mögen, mir gefällt’s aber.
A Divine Eradication kommt wieder vertrackt, hektisch und relativ uneingängig daher, ebenso My Deteriorating Incline, bei dem eine stilistische Ähnlichkeit zu den bereits erwähnten Norma Jean wirklich nicht verneint werden kann.
Das Album ist mitunter ein schwerer Brocken, insbesondere für diejenigen, die They’re only chasing safety als ihr Lieblingsalbum angeben würden. Ähnlich wie bei dem Vorgänger benötigt man einige Durchgänge, um alle Songs in ihrer Gänze zu erfassen. Trotzdem sind die typischen Underoath-Trademarks immer wieder erkennbar, insbesondere im abschließenden In Completion, welches eine schöne bedrückende Atmosphäre erzeugt und mit der beste Song des Albums ist. Und wieder mal bleibt festzustellen: wenn alles scheiße läuft („Nothing has changed, nothing has changed like I said it would“), gibt’s immer noch Underoath. Davon wird die Situation zwar nicht besser, aber man hat den passenden Soundtrack.

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